Manfred Schneider bricht im NZZ-Gastkommentar “Wider den Cyber-Analphabetismus” ein Lanze für die Bibliotheken:
“Wer also behauptet, wir benötigten keine Bibliotheken, weil wir das Internet hätten, gehört in die Gesellschaft der Schildbürger, die keine Elektrizitätswerke benötigen, weil sie doch Steckdosen haben. Der populäre Satz, wonach das Internet «nichts vergisst», ist eine Warnung und nichts weniger als eine Beruhigung, denn von den Datenspeichern weltweit werden unablässig Einträge gelöscht, oder sie verschwinden mit den Rechnern selbst, die ständig erneuert werden müssen.
Wer im Vertrauen darauf, dass Wikipedia schon alles weiss, seine Lexika und Enzyklopädien ins Feuer wirft, wird irgendwann reumütig zu materiellen Datenträgern und greifbaren Informationssystemen zurückkehren, die immer noch die Grundlage allen Wissens bilden. Unzählige Links in der – gewiss grossartigen – Wikipedia-Enzyklopädie sind binnen kurzem erloschen, Verweise auf Bücher, Artikel, Zeitungsnachrichten, Funk- und Fernsehsendungen haben ihre unvermeidlich begrenzte Lebensdauer und unterliegen dem Vergessen – nicht des Internets, sondern der Zeit selbst. (…)
Denn es ist das Merkmal der altmodischen sozialen Institutionen, der Schulen, Kirchen, Gerichte, Verwaltungen, Krankenhäuser, Universitäten, Bibliotheken, dass sie zwar dem Wandel unterliegen, aber als kollektive, gesellschaftliche oder staatliche Einrichtungen für alle Zeit betrachtet und von jeder Generation als neue Aufgabe übernommen werden. Wikipedia ist fünfzehn Jahre alt, aber wird es auch noch in fünfzig oder hundert Jahren zur Verfügung stehen? Als Kaiser Justinian im Jahr 529 sein grosses Rechtsbuch, den «Codex Justinianus», vorstellte, erklärte er, dass das Römische Reich dank Gottes Gnade für alle Ewigkeit existieren werde. Auch eine Fehlprognose, aber «Ewigkeit» ist die Lebenszeit von Institutionen, auch wenn Geschichte und Erfahrung das nicht immer bestätigen. Denn es gibt keinen Staat, keine Universität, keine Bibliothek, die nur eben für zwanzig oder fünfzig Jahre gegründet wurde, sondern stets auf Dauer, auch wenn diese zum Dauern ihre Funktionen und Strukturen dauernd veränderten Bedürfnissen und Notwendigkeiten anpassen.”