Lesen, um sich zu verändern

Der Philosoph Peter Bieri hat 2005 mit dem NZZ-Artikel «Wie wäre es, gebildet zu sein?» (2007 auch in der Zeit unter dem Titel «Bildung beginnt mit Neugierde«) einen in letzter Zeit wieder häufiger zitierten Text verfasst. Es geht darin u.a. auch ums Lesen:

«Der Gebildete ist ein Leser. Doch es reicht nicht, ein Bücherwurm und Vielwisser zu sein. Es gibt – so paradox es klingt – den ungebildeten Gelehrten. Der Unterschied: Der Gebildete weiss Bücher so zu lesen, dass sie ihn verändern. «Schützt Humanismus denn vor gar nichts?», fragte Alfred Andersch mit Blick auf Heinrich Himmler, der aus einer Familie des humanistisch gebildeten Bürgertums stammte. Die Antwort ist: Er schützt nur denjenigen, der die humanistischen Schriften nicht bloss konsumiert, sondern sich auf sie einlässt; denjenigen, der nach dem Lesen ein anderer ist als vorher. Das ist ein untrügliches Kennzeichen von Bildung: dass einer Wissen nicht als blosse Ansammlung von Information, als vergnüglichen Zeitvertreib oder gesellschaftliches Dekor betrachtet, sondern als etwas, das innere Veränderung und Erweiterung bedeuten kann, die handlungswirksam wird. Das gilt nicht nur, wenn es um moralisch bedeutsame Dinge geht. Der Gebildete wird auch durch Poesie ein anderer. Das unterscheidet ihn vom Bildungsbürger und Bildungsspiesser.

Der Leser von Sachbüchern hat einen Chor von Stimmen im Kopf, wenn er nach dem richtigen Urteil in einer Sache sucht. Er ist nicht mehr allein. Und es geschieht etwas mit ihm, wenn er Voltaire, Freud, Bultmann oder Darwin liest. Er sieht die Welt danach anders, kann anders, differenzierter darüber reden und mehr Zusammenhänge erkennen.

Der Leser von Literatur lernt noch etwas anderes: wie man über das Denken, Wollen und Fühlen von Menschen sprechen kann. Er lernt die Sprache der Seele. Er lernt, dass man derselben Sache gegenüber anders empfinden kann, als er es gewohnt ist. Andere Liebe, anderer Hass. Er lernt neue Wörter und neue Metaphern für seelisches Geschehen. Er kann, weil sein Wortschatz, sein begriffliches Repertoire, grösser geworden ist, nun nuancierter über sein Erleben reden, und das wiederum ermöglicht ihm, differenzierter zu empfinden.»

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